Elche und Einhörner in Tübingen
(Stuttgart/Tübingen) – Dr. Harpreet Singh ist Mitgründer und Geschäftsführer der Immatics Biotechnologies GmbH. Das Tübinger Unternehmen hat sich auf die Entwicklung und Herstellung von T-Zell-basierten Immuntherapien für die Behandlung von Krebs spezialisiert. An inzwischen drei Standorten – neben Tübingen noch München und Houston, Texas – sind insgesamt rund 400 Mitarbeiter beschäftigt, die meisten davon am Hauptstandort in Tübingen. Nach dem erfolgreichen IPO an der Technologiebörse Nasdaq im Jahr 2020 wurde jüngst ein milliardenschwerer Vertrag mit dem US-Pharmakonzern Bristol Myers Squibb verkündet. Seit Singh das Unternehmen vor über 20 Jahren mitgründete, ließ er sich nicht von seinem Weg abbringen, eine wirksame Waffe gegen Krebs zu entwickeln. Aktuelle Nachrichten und Studien aus dem Unternehmen sprechen dafür, dass er diesem Ziel immer näher kommt.
Es war keine Schnapsidee, aber Hochprozentiges hat bei der Gründungsgeschichte des Unternehmens in Tübingen womöglich doch eine Rolle gespielt, als Harpreet Singh und Niels Emmerich in der Liquid Kelter Bar in Tübingen saßen. „Die Idee für den Namen entstand bei einem Boston Sour“, ist sich Singh sicher. Der klassische Cocktail aus Bourbon, Zitronensaft, Sirup sowie einem Eiweiß wäre damit ein Geburtshelfer für Immatics gewesen. In dem Start-up stellten die beiden Doktoranden ab dem Jahr 2000 zunächst Bioreagenzien her und verkauften sie an Forschungsinstitute. Noch war nicht zu erahnen, dass das Unternehmen in der Zukunft an einem Mittel gegen Krebs arbeiten würde. Denn der damals 26-jährige Jungunternehmer Singh hatte seine Studienzeit nicht nur im Labor verbracht; gemeinsam mit dem späteren Oberbürgermeister der Stadt Tübingen organisierte er beispielsweise 1997 einen Streik an der Universität. Daraus wurde eine Freundschaft, die bis heute Bestand hat. „Boris Palmer hat die Bedeutung der Biotechnologie für diesen Standort sehr früh erkannt und sich dafür eingesetzt“, erklärt Singh.
Im Jahr 2000 zog Immatics als einer der ersten Mieter im neuen Technologiepark Tübingen-Reutlingen ein. Sie trotzten als Start-up in diesen Jahren dem „nuklearen Winter“ für die Branche, erinnert sich Singh. „Wir haben es trotzdem geschafft, denn wir hatten Glück und haben die richtigen Leute getroffen. Beispielsweise Dietmar Hopp, den bis heute größten Anteilseigner des Unternehmens, der auch in schwierigen Zeiten immer an uns geglaubt hat, oder die Brüder Strüngmann, die seit über 10 Jahren Gesellschafter der Immatics sind. Ohne diese Menschen würde es die Biotechnologie in Deutschland heute gar nicht geben.“
Wie für den perfekten Boston Sour kommt es eben auch bei Unternehmen auf die Rezeptur an: die richtigen Leute am richtigen Ort. Rückblickend betrachtet Singh es daher als großes Glück, dass er während seines Studiums der Biochemie in Tübingen Prof. Dr. Hans-Georg Rammensee traf, der die Abteilung Immunologie des Interfakultären Instituts für Zellbiologie der Eberhard Karls Universität Tübingen leitete – und immer noch leitet. Bei diesem Ausnahme-Forscher hat Singh nicht nur promoviert: „Die Immatics gründete auf dem, was er geschaffen hat, er ist Teil unserer Entstehungsgeschichte. Er hat im Prinzip die Grundlagen für die moderne T-Zell-basierte Immuntherapie geschaffen, die darauf beruht, dass eine T-Zelle, also ein weißes Blutkörperchen, an eine Zielstruktur auf der Oberfläche einer Tumorzelle andockt. Diese Zielstruktur ist ein Peptid, das in ein sogenanntes HLA-Molekül eingebettet ist“, erläutert Singh. Und dann erklärt er für den Laien, was für Fachleute vermutlich offensichtlich ist: Sowohl in den Geschäftsräumen der Immatics als auch in der Abteilung Immunologie in der Universität Tübingen sind zahlreiche Abbildungen von Elchen zu finden: „Die Struktur des HLA-Moleküls hat Ähnlichkeit mit einem Elchkopf, deshalb ist er das Maskottchen der HLA-Immunologen in Tübingen.“
Die Körperpolizei greift ein!
Toni Weinschenk, ein weiterer Mitgründer und Mitglied des Vorstands der Immatics hat dieses Wissen aus der Universität Tübingen weiterentwickelt und eine Technologieplattform geschaffen, mit deren Hilfe man feststellen kann, welche Zielstrukturen auf einem Tumor vorhanden sind. T-Zellen docken normalerweise mit Hilfe von T-Zell-Rezeptoren an den Zielstrukturen an und bekämpfen so den Krebs. Manchmal hat das Immunsystem „vergessen“, diese Zielstrukturen zu erkennen und ist dank der Immatics-Technologie in der Lage, die Zielstruktur zu erkennen und zu bekämpfen. Dieses Thema beschäftigt Singh seit seiner Kindheit. Aus der Sicht des damals 7-Jährigen war das ein Job für die „Körperpolizei“. „Ich lag als Kind mit einer Infektion und hohem Fieber im Bett. Meine Mutter erklärte mir, dass in meinem Blut die Körperpolizei aufräumt, das hat mich sehr fasziniert“, erinnert sich Singh, der inzwischen selbst Vater von zwei Söhnen ist. „Diese Polizisten setzen wir jetzt in der Onkologie ein, indem wir ihnen durch eine Gentherapie einen Rezeptor einpflanzen. Und mit Hilfe dieser ‚Waffe‘ können wir jetzt Tumorzellen sehr spezifisch identifizieren, um sie zu bekämpfen.“
Dass das nicht nur im Labor funktioniert, konnte Immatics inzwischen in ersten klinischen Studien mit Menschen zeigen. „Bei der Hälfte der Patienten konnten wir sehen, dass die Tumore binnen weniger Tage regelrecht anfingen zu schmelzen“, so Singh. „Es waren Patienten, die schon zahlreiche Vorbehandlungen hatten, bei denen nichts mehr funktionierte. Dennoch sind riesige Tumore binnen weniger Wochen geschrumpft. Das ist für mich, der seit Jahrzehnten daran arbeitet, ein wirksames Mittel gegen Krebs zu finden, ein wahnsinnig tolles Ergebnis.“ Jetzt ist der Blick schon nach vorne gerichtet. Im nächsten Schritt gilt es zu prüfen, ob und wie lange dieser Effekt auch anhält und damit nachhaltig einen medizinischen Nutzen für den Krebspatienten erzielt.
Keine heimlichen Ausflüge ins Labor
„Meine Motivation ist es seit Jahrzehnten, eine wirksame Waffe gegen den Krebs zu finden, darauf konzentriere ich mich.“ Wenn er sich mal nicht auf diesen Kampf konzentriert, entspannt sich der Familienvater am liebsten zu Hause. „Früher bin ich mit dem Gleitschirm geflogen, heute freue ich mich, wenn ich meinen Söhnen das Skifahren beibringen kann.“ Da er aus familiären Gründen in München wohnt, wo das Unternehmen, neben Houston in Texas, einen weiteren Standort hat, ist er häufig unterwegs. Längst ist der Unternehmer mehr in Büros als im Forschungslabor, was er durchaus auch bedauert: „Vor zehn Jahren hat mich die Forschung so wenig losgelassen, dass ich mich nachts heimlich ins Labor geschlichen habe. Heute fokussiere ich mich darauf, gemeinsam mit dem fantastischen Team das Unternehmen voranzutreiben.“ Seine größte Stärke sieht er in der Kommunikation: „Ich kann wohl ganz gut übersetzen – von der komplexen Forschung in etwas, das von Menschen verstanden wird. Das ist nicht nur in Interviews wichtig, sondern auch gegenüber Investoren.“
Denn Investoren sind für Biotech-Unternehmen wie Immatics nach wie vor von großer Bedeutung, da diese Unternehmen in der Regel erst nach Jahrzehnten Produkte anbieten können, mit denen sie auch Geld verdienen. Dietmar Hopp ist beispielsweise über seine Heidelberger Investmentgesellschaft dievini mit rund 26 Prozent größter Einzelaktionär von Immatics. Nach dem erfolgreichen Börsengang an die Nasdaq im Jahr 2020 wurde jüngst ein milliardenschwerer Vertrag mit dem US-Pharmakonzern Bristol Myers Squibb verkündet. Auf den Top-Deal reagierte die Börse mit einem Kurssprung. Es läuft also gut für die Immatics, die in den Jahren seit der Gründung auch immer mal wieder Rückschläge hinnehmen musste. Start-up-Unternehmen mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar werden in der Branche „Einhörner“ genannt. Ob die sich nicht hervorragend mit den Elchen in der Tübinger Immatics-Zentrale verstehen würden, ist für Singh keine Frage: „Im Moment sind alle Börsen in Wallung und das hat nicht unbedingt etwas mit unseren Leistungen zu tun. Die kurzfristigen Ausschläge nach oben oder unten sind für mich nicht relevant. Wichtig ist, dass wir echte Werte für Krebspatienten schaffen.“
Lernen, Erfolge zu feiern
Dass das Unternehmen, neben Deutschland, auch in den USA ansässig ist, ergebe Sinn, erklärt Singh, der sowohl Geschäftsführer der Immatics Biotechnologies GmbH in Tübingen ist als auch CEO der US-amerikanischen Immatics US, Inc.: „Die Denkweise in den USA ist: Es gibt Unternehmen, die es schaffen und es gibt Unternehmen, die es eben nicht schaffen. Es liegt in der Natur eines Ventures, dass man ein Risiko eingeht. Ich liebe Deutschland, ich bin hier geboren, aber hier fokussieren wir uns oft zu sehr auf das Negative, die Möglichkeit des Scheiterns. Das ist zwar Teil der deutschen Kultur, hier sollten wir uns aber von den Amerikanern abschauen, Erfolge zu feiern. Wir können wahnsinnig stolz sein, dass zwei von drei Unternehmen weltweit, die die mRNA-Technologie beherrschen, in Deutschland sitzen. Das ist super.“ Wenn es um die Bewertung der eigenen Leistung geht, sind Singh Superlative aber fremd: „Bescheidenheit ist etwas, was wir in unserer Kultur bei Immatics verinnerlicht haben, auch das geht auf Prof. Rammensee zurück. Der wird seit Jahrzehnten hochgelobt und ist dennoch immer auf dem Boden geblieben, das hat mich sehr beeindruckt.“ Bei der Entdeckung der mRNA und ihrer Möglichkeiten, spielte ebenfalls Rammensee eine große Rolle. „Das ist direkt nebenan im gleichen Stockwerk hier in Tübingen passiert.“ Viele Jahre später wurde diese Entdeckung die Grundlage für die Entwicklung der ersten Impfstoffe gegen SARS-CoV-2. Singh gehörte aus Überzeugung zu den ersten Studienkandidaten der CureVac: „Daher hatte ich lange Zeit keinen Impfstatus.“ Das hat er aber längst nachgeholt und reist nach zwei Jahren Homeoffice wieder rund um den Globus: „Nur Zoom, da geh‘ ich ein“, lacht er. Ob er jemals die Entscheidung in der Liquid Kelter Bar in Tübingen bereut habe? „Nein niemals, Immatics ist mein Leben.“
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