Mit personalisierter Teletherapie gegen Zwangsstörungen
Zwangsstörungen werden bislang überwiegend in der Klinik behandelt. Um den Therapieerfolg zu erhöhen wollen Forschende der Universitäten Tübingen und Stuttgart unter Federführung des Universitätsklinikums Tübingen (UKT), Kinder und Jugendliche auch in ihrem alltäglichen Umfeld behandeln. Dazu entwickeln sie technisch gestützte Therapiemöglichkeiten.
Hände waschen, checken, ob der Kühlschrank zu und der Herd ausgeschaltet sind oder Kleidung nach dem Trocknen falten und in den Kleiderschrank legen. Wir alle tun das intuitiv und gedankenlos in unserem Alltag. Doch wenn wir es wiederholt nach festgelegten Ritualen tun müssen, bis es genau richtig wird und dabei unangenehme Gedanken auftreten, könnten das Anzeichen für eine Zwangsstörung sein. Rund drei Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 13 bis 17 Jahren zeigen solche zwanghaften Verhaltensweisen. Durch diese Zwänge erleben sie und ihrer Familien häufig erhebliche Einschränkungen im Alltag.
Zwangsstörungen therapieren, wo sie auftreten
„Die Behandlung von Zwangsstörungen, wie zum Beispiel von Reinigungs-, Kontroll- und Ordnungszwängen sollte dort durchgeführt werden, wo sie auftreten“, erklärt Prof. Tobias Renner, ärztlicher Direktor der Kinder – und Jugendpsychiatrie am UKT „Die Auslöser für das jeweilige Zwangsverhalten können wir im Behandlungszimmer mit den Patient*innen zwar in Gesprächen bearbeiten, für einen durchschlagenden Therapierfolg müssen wir jedoch dort ansetzen, wo die echten Auslöser liegen – im Alltag der Patientinnen und Patienten.“
In der gemeinschaftlichen Projektstudie SSTeP-KiZ (Smarte Sensortechnologie in der Telepsychotherapie für Kinder und Jugendliche mit Zwangsneurosen) erproben Forschende der Universitäten Tübingen und Stuttgart sowie des UKT, den Einsatz von multimodalen Sensoren. Diese Sensoren helfen Psychiater*innen die Reaktionen ihrer Patient*innen objektiv erfassen und beurteilen zu können. Möglichkeiten der Teletherapie. „Therapien per Videokonferenz haben sich bereits bewährt“, sagt Renner. „Allerdings müssten wir bei Konfrontationsübungen im häuslichen Umfeld die Auslöser für zwanghafte Verhaltensweisen sowie Stresslevel der Kinder und Jugendlichen besser erkennen können, um langfristig Erfolge zu erzielen.“
Dazu entwickeln Forschende aus den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Hirnforschung, Informationstechnologie, Kognitionswissenschaft sowie Visualisierungstechnologie eine Software, die es ermöglicht, multimodale Sensorinformationen synchron aufzuzeichnen, zu streamen und auszuwerten. Die Patient*innen tragen dazu Eye-Tracker und Sensoren, etwa an den Handgelenken, die Vitalwerte, Bewegungsabläufe sowie die Umgebung aus deren Perspektive aufzeichnen. Anhand der gewonnenen Daten können die Forschenden Stressreaktionen analysieren und Behandlungsmöglichkeiten individuell anpassen. Bereits 20 Kinder und Jugendliche sind damit bislang erfolgreich therapiert worden.
Teletherapie im Alltag mit multimodalen Sensoren
In Konfrontationsübungen, sogenannten Expositionen, werden Kinder und Jugendlichen Triggern ausgesetzt, die bei ihnen Zwangsverhalten auslösen. Während der Übung erfassen die Forschenden zum einen mittels Elektrokardiogramm (EKG) physische Marker für Stress, zum anderen mit Sensoren und Eye-Trackern die Bewegungen der Patient*innen. „Stress lässt sich allein mit dem EKG nicht objektiv messen“, sagt Dr. Winfried Ilg, Data Scientist im Bereich neurologischer und psychiatrischer Störungen in der Sektion für Theoretische Sensomotorik am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung. „Um optimale Handlungsempfehlungen aus den Daten abzulesen, müssen wir wissen, ob eine Stressreaktion auf physische Anstrengung, wie Treppensteigen oder Radfahren, oder auf unbehagliche Gedanken und Angstzustände zurückzuführen ist.“
Im Rahmen der Teletherapie tragen die Kinder und Jugendlichen im Alltag einen EKG-Gurt, Sensoren an den Armen sowie Eye-Tracker. Vitalwerte und Bewegungsdaten werden zur späteren Auswertung auf einem Tablet gesammelt, das die Patient*innen in einem Rucksack mit sich führen. So können die Forschenden bestimmte Handlungen als Auslöser identifizieren. „Nicht nur die Blickrichtung liefert uns relevante Informationen, sondern auch Bewegungen“, erklärt Ilg. Greifen die Kinder und Jugendlichen zum Beispiel zögerlich nach auf Türklinke und ihre Herzfrequenz steigt während die Herzratenvariabilität abnimmt, könnte das Anfassen der Türklinke der Auslöser für ihr Unbehagen und ihre Angst sein. Um sich aus diesem Zustand zu befreien, führen die Betroffenen eine einstudierte Zwangshandlung aus und waschen sich zum Beispiel minutenlang die Hände. „Dabei sinkt die Herzfrequenz und die Herzratenvariabilität nimmt zu - ein Zeichen dafür, dass sich Stress abbaut“, so der Tübinger Forscher.
„Zu wissen, wann und warum im Therapieverlauf Stress ab- oder zunimmt, macht es uns möglich Übungen individuell an den Patienten oder die Patientin anzupassen“, sagt Renner. In den Sitzungen werden die Kinder und Jugendlichen mit den Auslösern für ihre Zwänge konfrontiert und lernen, ein Zwangsverhalten bewusst nicht auszuführen. Renner weiß aus Erfahrung: „Wenn die Patientinnen und Patienten in der Teletherapiesitzung lernen belastende Gedanken auszuhalten, ohne die Zwangshandlung zu vollziehen, erarbeiten sie sich Schritt für Schritt ihre Freiheit für den Alltag wieder.“
Stressmarker und Bewegungsabläufe zusammendenken
Wie sich die Patient*innen selbständig im Alltag bewähren, wollen die Forschenden in einer weiterführenden SSTeP-KiZ-Studie zu elektronischen Assistenzsystemen herausfinden. „Wir wollen untersuchen, wie sich das Stressempfinden und Verhalten ändern, wenn die Kinder und Jugendlichen ohne die Therapeutin oder den Therapeuten im Alltag üben, eine Zwangshandlung nicht auszuführen“, sagt Prof. Andreas Bulling , Experte für Mensch-Computer-Interaktion und Kognitive Systeme am Institut für Visualisierung und Interaktive Systeme (VIS) der Universität Stuttgart. „Aus bisherigen Untersuchungen wissen wir, dass ein deutlicher Zusammenhang zwischen Biomarkern für Stress sowie gezielten und zögerlichen Bewegungen oder auch ruhenden und hektischen Pupillenbewegungen besteht. Bei der Datenanalyse können und müssen wir darum beide Komponenten noch enger zusammendenken, um adaptive Assistenzsysteme zu entwickeln.“
Fachlicher Kontakt:
Prof. Tobias Renner, ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum Tübingen,
Tel.: +49 7071 29 62510,
E-Mail
Dr. Winfried Ilg, Universität Tübingen, Sektion für Theoretische Sensomotorik,
Tel.: + 49 7071 29 89125,
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Prof. Andreas Bulling, Universität Stuttgart, Institut für Visualisierung und Interaktive Systeme,
Tel: +49 711 685 60048,
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