Smart Manufacturing für die Biotechnologie
(Stuttgart) – Die Variolytics GmbH entwickelt Messgeräte, die das Unsichtbare sichtbar machen. Die Analyseplattform des Stuttgarter Startups, deren Technologie am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB entwickelt wurde, ermöglicht unter anderem den Betreibern von Kläranlagen Energie einzusparen und die Emission von umweltschädlichen Gasen zu reduzieren. Mittels ihrer patentierten Echtzeitanalytik können aber auch Prozesse in Bioreaktoren, beispielsweise zur Produktion von Antikörper-Medikamenten, beschleunigt werden.
Die Idee, „das Unsichtbare sichtbar machen“, war für Dr.-Ing. Matthias Stier die Triebfeder, um mit seiner Forschung zu beginnen. Vor allem wollte er genau wissen, welche Schadstoffe in die Umwelt gelangen. So begann der Prozessingenieur im Jahr 2015 am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB zu forschen. Gemeinsam mit seinem Team entwickelte er eine innovative Messtechnik für Massenspektrometer. In der Industrie kommen Massenspektrometer zum Einsatz, um die Zusammensetzung von Stoffen zu bestimmen und deren Veränderung zu überwachen – bislang allerdings nur bei Gasen. Stier hatte die Idee für ein innovatives und patentiertes Einlasssystem, das es ermöglicht, bis zu 30 verschiedene Stoffe bzw. Komponenten sowohl in der Gas- als auch der Flüssigphase gleichzeitig und in Echtzeit zu analysieren. „Mein Antrieb für diese Entwicklung war ganz klar der Umweltschutz“, erklärt Stier. Verschmutzungen in Gewässern oder den Austritt von klimaschädlichen Gasen identifizieren zu können, ist für Unternehmen jedoch nur dann attraktiv, wenn sie unter dem Strich mit der neuen Technologie Gewinn machen. Folgerichtig gründete er mit Unterstützung des Fraunhofer Venture Programms Hightech-Pioneers sowie dem Förderprogramm EXIST des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie im Jahr 2020 das Unternehmen Variolytics.
Angesiedelt hat sich das Unternehmen, das aktuell neun Mitarbeiter beschäftigt, auf dem Fraunhofer-Campus in Stuttgart-Vaihingen direkt am IGB, Abteilung für Zell- und
Gewebetechnologien. „Die von Variolytics am IGB entwickelte Methode eröffnet neue Möglichkeiten für die automatisierte Überwachung und Steuerung von chemischen Reaktionen und biotechnologischen Prozessen sowohl in der Biotechnologie als auch in der Pharmazie“, erklärt der Leiter des Fraunhofer IGB, Dr. Markus Wolperdinger.
„Wir freuen uns, dass wir Variolytics die Möglichkeit zur Entwicklung der Technologie bieten und das Unternehmen auf dem Weg zum Markteintritt unterstützen konnten.“ Für Stier ist der Standort perfekt: „Wir sind als Start-up relativ klein, genießen hier aber die Vorteile einer first-class Infrastruktur. Denn in der BioRegion STERN ist nicht nur Biotech-Kompetenz, sondern auch reichlich Automatisierungs- und Maschinenbau-Know-how vorhanden.“
Die ersten Kunden von Variolytics sind die Betreiber von Kläranlagen, in denen Verunreinigungen unter anderem mit Hilfe von Mikroorganismen biologisch abgebaut werden. Damit sich die Bakterien wohl fühlen und ihre Arbeit erledigen, benötigen sie Sauerstoff. Wird dem Becken zu wenig Sauerstoff zugeführt, sterben die Bakterien ab; wird zu viel zugeführt, erhöhen sich die Energiekosten ohne Steigerung der Ausbeute. Außerdem können in Kläranlagen klimaschädliche Gase wie Methan oder das als Lachgas bekannte Distickstoffmonoxid entstehen. Für den „Überzeugungstäter“ Stier der perfekte Einsatzort für seine Analyseplattform: „Sie überwacht in der Kläranlage klimaschädliche Gase in den Belebungsbecken und hilft dabei, diese zu reduzieren. Mit bis zu 25 Prozent Energieeinsparung können die Betreiber rechnen, da auf Basis der Messwerte und speziellen Regelstrategien die Begasung für den mikrobiellen Abbau von Organik im Abwasser permanent optimiert wird.“ Variolytics kooperiert dafür mit der aquatune GmbH aus Hahnstätten in Rheinland-Pfalz. Deren Geschäftsführer Dipl.-Phys. Dr. Jörg Gebhardt hat sich auf die intelligente Optimierung von Wasser- und Abwasserprozessen spezialisiert. Als Pionier für das Maschinenlernen war er so beeindruckt, wie es dem Stuttgarter Team gelungen war, die prädiktive, also vorausschauende Begasung in Belebungsbecken zu optimieren, dass er sich entschloss, das Start-up als Business Angel zu unterstützen.
Doch Variolytics ist weit entfernt, sich im „Kläranlagen-Thema“ gemütlich einzurichten. Auf Basis identischer Hardwarekomponenten bei variierender Software plant das Unternehmen nichts weniger als schnellstmöglich eine Schlüsseltechnologie für Bioreaktoren anzubieten. Davon können nicht zuletzt Pharmaunternehmen profitieren, die in Bioreaktoren Zellen oder Mikroorganismen kultivieren, um Wirkstoffe zu gewinnen. Um Medikamente oder Impfstoffe herzustellen, die beispielsweise gegen COVID-19 wirksam sind, werden Säugerzellenkulturen in Fermentern kultiviert, die konstant ideale Bedingungen benötigen. Im Unterschied zur Kläranlage müssen in Bioreaktoren für die pharmazeutische Wirkstoffentwicklung permanent viele verschiedene Prozessparameter überwacht werden – unter Bedingungen der jeweils geltenden Richtlinien für die „Good Manufacturing Practice“ (GMP). Das heißt zum Beispiel, dass kein einziger der benötigten Sensoren ein Kontaminationsrisiko darstellen darf. Zur Herstellung beispielsweise von Medikamenten mit Antikörpern werden in der modernen Präzisionsmedizin inzwischen kleinere Reaktoren benötigt, häufig mit Einweg-Systemen. Das macht den Einsatz einzelner Sensoren teilweise unrentabel. Variolytics kalkuliert, dass aus diesem Grund 40 Prozent der notwendigen Schlüsselparameter gar nicht erfasst werden und dadurch bis zu 50 Prozent Ausbeuteverluste entstehen. „In solchen Fällen können keine konsequenten Regelstrategien für Gegenmaßnahmen angewendet werden“, erläutert Matthias Stier. „Wegen fehlender Sensordaten werden Bioreaktoren letztlich mit geringen Zelldichten und hohen Sterberaten betrieben. Wir ersetzen fünf Sensoren und liefern sechs neue Prozessparameter, die Unternehmen erhalten mehr Daten und sparen Geld.“ Denn die teure Antikörperproduktion soll ja nicht nur beschleunigt, sondern auch kostengünstiger werden, damit die neu entwickelten Medikamente – wie sie zum Beispiel der ehemalige US-Präsident Trump während seiner Corona-Infektion erhalten hatte – nicht Luxus für wenige bleiben, sondern für jeden Kassenpatienten erschwinglich sind.
Für den Einsatz in Bioreaktoren entwickelte Variolytics das Analysegerät in handlichem Format: Kernstück der würfelförmigen Box mit etwa einem halben Meter Kantenlänge ist der Einlass zur Analysatoreinheit, mit dem – erstmalig für die Massenspektrometrie – auch Komponenten aus der Flüssigphase analysiert werden können. An diesem Einlass ist eine mikroporöse Membran angebracht, über die – angetrieben durch Unterdruck – flüchtige Substanzen aus der flüssigen Probe verdampfen und die Membran passieren. Neben der innovativen Hardware des Analysegeräts gestaltet Variolytics die Sensorkombination zu einer kompletten Plattformtechnologie nach dem Vorbild des Smartphones. „Es gibt verschiedene Sensoren, aber erst die Apps bestimmen die Funktionen“, so Stier. „Wir kombinieren Life-Sciences mit Data Science, denn erst die richtige Datenmodellierung mittels Künstlicher Intelligenz ermöglicht die Nutzung der immensen Sensordaten, die wir generieren. Das Ziel ist Smart Manufacturing für die Biotechnologie!“
Wie wichtig Beschleunigung in der Medikamentenentwicklung und -produktion ist, hat die aktuelle Pandemie nachdrücklich gezeigt. Dr. Klaus Eichenberg, Geschäftsführer der BioRegio STERN Management GmbH, begrüßt die erfolgreiche Neugründung nachdrücklich: „Bisher ging man in der Biotechbranche davon aus, dass die Entwicklung neuer Medikamente oder Impfstoffe deutlich mehrere Jahre benötigt. Inzwischen haben sich die Entwicklungszeiten bei Impfstoffen massiv verkürzt. Wenn ein Plattformsystem wie Variolytics sämtliche Parameter zuverlässig beobachtet, kann das auch die Zulassung von Medikamenten weiter beschleunigen.“
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BioRegio STERN Management GmbH